Pokracovani:
In den dramatischen Tagen des Euromaidan 2014, die ich in der Stadt verbrachte, herrschte Kriegsstimmung. Überall standen Barrikaden aus Fässern und Brettern, abgebrannte Gebäude gähnten mit leeren Fenstern, der Gestank geschmolzener Reifen hing in der Luft. Militante Selbstverteidiger vom «Prawyi Sektor» trugen Kampfanzüge, einen Knüppel am Gurt und sammelten Geld für Waffen. Auf der endlos langen Rolltreppe aus dem Untergrund der U-Bahn-Haltestelle «Maidan» skandierten Gruppen hinauf fahrender junger Männer «Ruhm der Ukraine!», worauf Herunterfahrende antworteten mit «Tod den Feinden!».
VI. Die Mauer fällt
Wie man sich täuschen kann über die Zukunft einer Zeitenwende, erlebte ich, als ich Anfang Oktober 1989 den Auftrag hatte, den deutschen Historiker Sebastian Haffner für ein Interview über die politische Lage Europas anzufragen. Damals, vor dem Internet, ging das per Schneckenpost. Er schrieb zurück, sagte zu, gab mir seine Telefonnummer und schlug als Termin den 9. November vor. Ich dankte, legte auf und sass drei Wochen später im Flugzeug nach Berlin, als der Pilot über das Mikrofon informierte, die Mauer sei gefallen.
Es werde bei zwei Staaten bleiben, meinte der grosse deutsche Historiker Sebastian Haffner Anfang Oktober 1989. Ein paar Wochen später fiel die Mauer.
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Als ich in der dunklen, grossen Berliner Wohnung den Gelehrten antraf, sass er vor dem Fernseher. Seine Haushälterin servierte Kaffee und Gebäck, während die Nachrichten Massen von Menschen um und auf der Mauer zeigten, die jubelten, einander umarmten und mit Meisseln Souvenirs aus dem Beton hämmerten.
Zur Zukunft Deutschlands gefragt, meinte der Gastgeber, es werde wohl bei zwei Staaten bleiben; nun, da die Ostdeutschen die Freiheit hätten, ins Ausland zu reisen. Er würde eine Wiedervereinigung nicht begrüssen, sagte er, weil Deutschland zu gross sei für Europa und das Gleichgewicht der Mächte erneut gestört würde.
Sein Argument leuchtete mir ein, und ich blieb skeptisch, als ich mich durch die lärmenden Volksmassen drängte nach Ostberlin zum Brandenburger Tor, dem manche sich zögernd näherten, als erwarteten sie, niedergeschossen zu werden und aus ihrem Traum zu erwachen.
VII. Das beste Jahr
Es hat mich immer erstaunt, dass die Revolution von 1989, die Rückkehr des «gekidnappten Westens», wie Milan Kundera es nannte, in der Schweiz – im Unterschied zu Deutschland und einem Grossteil der Welt – oft mit einem Schulterzucken zur Kenntnis genommen wurde. Adolf Muschg, der Star der Schweizer Intelligenzija, bedauerte in einer Talkshow mit dem deutschen Historiker Michael Stürmer, dass es nun keine Alternative mehr gebe zum westlichen Kapitalismus.
Sich richtig freuen über die wiedererlangte Freiheit von Abermillionen von Menschen konnte er nicht, und die Hartnäckigkeit von Stürmer, der die angeblich positiven Bilanzposten des realen Sozialismus mit einer Kanonade von Fakten zertrümmerte, besserte Muschgs Stimmung nicht.
Dass die Osteuropäer in Freiheit und Wohlstand leben wollten wie sie, war den Bedenkenträgern aus Deutschland und der Schweiz suspekt.
In meinem Bekanntenkreis war es nicht viel anders. Bewegt waren wenige, Bedenken hatten viele. Noch Jahre nach der Revolution wurde ich misstrauisch gefragt, ob es den Polen, den Ungarn oder den Tschechen denn jetzt etwa besser gehe.
Dass die Osteuropäer in Freiheit, Sicherheit und Wohlstand leben wollten wie sie, die Bedenkenträger, war ihnen suspekt. Sie nahmen nicht wahr, dass die «Samtene Revolution» in ihrer Bedeutung der Französischen von 1789 nicht nachsteht; dass 1989 nicht nur ein Jahrhundertjahr, sondern eines der besten in der Geschichte Europas überhaupt ist.
Das Europa der siebenundzwanzig Länder der EU ist das friedfertigste seit Menschengedenken; die Jugoslawienkriege von 1991 bis 2001 sind ein Mahnmal an frühere Zeiten, der jetzige Krieg in der Ukraine die Lektion, dass friedfertig zu sein nicht heisst, keine Feinde zu haben. Dessen ist sich die politische Linke wie die politische Rechte kaum bewusst gewesen. Nun haben viele Linke eine Kehrtwende vollzogen, schämen sich für ihren Irrtum, leugnen ihn oder treten auf, als wären sie schon immer auf der richtigen Seite gestanden.
Der deutsche Psychologe, ein Achtundsechziger, der einst alte Zöpfe abschneiden wollte und den Rossschwanz noch immer trägt, schalt die Nato aggressiv und Amerika das «Reich der Blöden»; nun schweigt er und sucht das Thema zu vermeiden um des Friedens willen.
Der schweizerische Berufskollege, der sich nicht hervortat mit Plädoyers für eine starke Armee, die Nato und Amerika, feiert jetzt überschwänglich den Kampfesmut der Ukrainer, als seien sie eine lokale Fussballmannschaft, die in die Bundesliga aufsteigt. Nur die dänische Philosophin war bestürzt auch darüber, selber naiv und gutgläubig gewesen zu sein und weitergelebt zu haben, als wäre nichts passiert zuvor in Tschetschenien, Georgien, der Krim und dem Donbass.
Manche Rechte nehmen noch heute Putin in Schutz, verherrlichen ihn gar und verharmlosen oder leugnen, was in der Ukraine passiert und zigtausendfach dokumentiert ist. Fake-News-Junkies, die kein Sachargument kurieren wird, sind sie eine Minorität, die auf die westliche Russlandpolitik im Gegensatz zur Linken kaum Einfluss hatte.
Widerstand gegen die Sowjet-Hardliner: Während des Augustputsches 1991 steigt Boris Jelzin, Präsident der Russischen Teilrepublik, auf einen Panzer und verurteilt den Umsturzversuch.
Foto: Wojtek Laski/Getty Images
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Als der KGB, dessen Offizier Putin war, im Moskauer Putsch vom August 1991 Gorbatschow zu stürzen versuchte, erklärte das ukrainische Parlament die Unabhängigkeit; neunzig Prozent votierten in der Volksabstimmung dafür. Noch im selben Monat wurde die UdSSR aufgelöst, und das letzte koloniale Imperium der Welt war Geschichte.
Putin, der 1989 in Dresden mit der Vernichtung von sowjetischen Codebüchern im Garten der KGB-Filiale seine «dunkelste Stunde» erlebte, erklärte diese Befreiung zur «grössten geopolitischen Katastrophe des Jahrhunderts».
Doch was Putin fürchtet, ist weder die Nato noch Amerika oder der Westen generell, sondern die Geburt einer neuen Demokratie in der unmittelbaren Nachbarschaft, die sein Volk ermutigen könnte, endlich aufzustehen. Die Ukraine ist nicht nur der Phantomschmerz Russlands, wie Kateryna gesagt hat, sie ist auch die Zeitbombe, die der Herrscher im Kreml entschärfen muss, will er an der Macht bleiben.
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Bis anhin hatte die Schweiz mit Deutschland gemeinsam, dass beide Staaten kein Konzept von einem Feind haben. Deutschland wollte sich aufgrund seiner Gewalttaten gegen angebliche Feinde jedweder Art mit seinem «Nie wieder Krieg» von jedem Waffengang dispensieren; die Schweiz, in der seit über hundertsiebzig Jahren Frieden herrscht, hat keinen Feind und blieb selbst in den zwei Weltkriegen unversehrt. Dass beide Staaten, ohne die geforderte Gegenleistung zu entrichten, unter dem Schutzschirm der Amerikaner stehen, haben die meisten erst wahrgenommen, seit es in der Nachbarschaft Raketen regnet.
Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass eine der grössten geopolitischen Katastrophen des 20. Jahrhunderts von der Schweiz aus eingeleitet wurde.
Beide verstehen sich auch nicht auf Geopolitik. Das tun nur die Briten, die Amerikaner, die Chinesen und einzelne weitere. Die Unterschiede springen ins Auge in der Frage, wie man reagieren soll, wenn Putin mit Nuklearraketen droht.
Führt die Drohung dazu, zurückzukrebsen mit der Lieferung schwerer Waffen an die Ukrainer, hat nicht nur Putin gewonnen. Mit ihm lernen die Autokraten rund um die Welt, dass der Westen schwach ist, sich erpressen lässt und einen selber stärker macht. Der Rüstungswettlauf hat bereits begonnen, das Risiko atomarer Katastrophen nimmt zu.
Es gehört zur Ironie der Geschichte, dass eine der grössten geopolitischen Katastrophen des vergangenen Jahrhunderts von der Schweiz aus eingeleitet wurde. Die russische Oktoberrevolution, Lenins Putsch – eine Zeitenwende – hat ihre Wiege in der Zürcher Spiegelgasse 14, in jener Wohnung Lenins, neben der achtzig Jahre zuvor Georg Büchner gelebt hatte, der in «Dantons Tod» seherisch mit dem Fluch auch dieses gewalttätigen Umsturzes abrechnete.
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Als in Libyen 2011 der Bürgerkrieg ausbrach, war ich bei einem meiner Freunde in Kalifornien zu Besuch. Otto hatte den Fernseher angehabt als ich kam, mich angeblickt und gesagt: «Wir müssen etwas tun.»
Mit «wir» meinte er sein Land. Dieses «wir müssen» habe ich immer wieder gehört in den USA, nicht das «man sollte», das man anderswo gewohnt ist: Beim Protest der «Grünen Bewegung» in Teheran 2009 gegen den Wahlbetrug, bei den Demonstrationen im Arabischen Frühling 2011 auf dem Tahrir-Platz in Kairo, beim Tiananmen-Massaker 1989 in Peking, als die protestierenden Studenten vis-à-vis dem Mao-Porträt über dem Eingang zur Verbotenen Stadt die «Göttin der Demokratie» aufgestellt hatten, inspiriert von der New Yorker Freiheitsstatue.
Es waren die Amerikaner, die mit der Bombardierung von Serbien den versuchten Genozid an Muslimen in Bosnien und Albanern im Kosovo gestoppt haben. Kein europäischer Staatsmann, sondern Bill Clinton wurde in Pristina mit einer Statue geehrt. Nun sind es wieder sie, die mit dem Präsidenten Joe Biden als Ordnungsmacht amtieren; die «indispensable nation», wie Madeleine Albright sagte, Clintons Aussenministerin, die 2022 Putin traf und berichtete, der Mann sei «entschlossen, die auseinandergebrochene Sowjetunion zu alter Grösse zurückzuführen».
Nicht die Nato hat missioniert; Polen, Balten und Ukrainer haben den Beitritt zum westlichen Militärbündnis gewollt.
Wie die Osteuropäer, haben auch die Amerikaner realisiert, dass der Truppenaufmarsch Russlands an der Grenze zur Ukraine keine Drohkulisse, sondern der Auftakt zum Krieg war. Es ist Amerika, das die Brandherde in Europa löscht, das mit Raketen zündelnde Nordkorea observiert, das von China bedrohte Taiwan und das von Antisemiten umzirkelte Israel schützt.
Immer wieder habe ich mit Freunden und Bekannten gestritten über die Führungsrolle der USA und die Nato, die sie beschuldigten, Russland betrogen zu haben mit der Versicherung, das Bündnis der Verteidigungsgemeinschaft nicht nach Osten zu erweitern.
Mit der Öffnung der Archive der Regierungen von Helmut Kohl, George Bush und Bill Clinton, den publizierten privaten Aufzeichnungen und Briefen der aussenpolitischen Akteure wie Hans-Dietrich Genscher, Eduard Schewardnadse, James Baker und Michail Gorbatschow ist geklärt, dass die Sowjetunion 1990 nicht wie behauptet vom Westen über den Tisch gezogen wurde.
Nicht die Nato hat missioniert, sondern die Polen, die Balten und die Ukrainer haben den Beitritt zum Militärbündnis gewollt, für das der Angriff auf eines seiner Mitglieder ein Angriff auf alle ist.
VIII. Hipper KGB
Wie absurd und beschämend die noch heute verbreitete Verharmlosung der kommunistischen Diktaturen und ihrer Nachfahren ist, war ein Thema, über das ich mich in Washington 2003 während des Irakkriegs mit Anne Applebaum unterhielt. Mitglied der Chefredaktion der «Washington Post», zeigte sie mir deren Grossraumbüro, das noch genau so aussah wie im Film «All the President’s Men» von 1976 über Watergate, worin Robert Redford und Dustin Hoffman das Journalistenteam spielen, das Präsident Richard Nixon – «Tricky Dick» – zu Fall bringt.
Applebaum hatte eben «Gulag. A History» veröffentlicht, die erste Gesamtdarstellung der sowjetischen Arbeits- und Konzentrationslager. Sie erzählte, wie verwundert sie war, als sie in Prag über die Karlsbrücke ging, wo ihre Landsleute entzückt kauften, was die Souvenirhändler feilboten – Anstecknadeln mit Hammer und Sichel, dem Porträt von Lenin und sonstige Devotionalien des Sowjetkommunismus.
Lachend hätten sie sich T-Shirts übergestreift mit dem Emblem des russischen Geheimdienstes KGB. Niemandem von ihnen, sagte Anne, wäre es in den Sinn gekommen, sich mit dem Bildnis von Hitler oder dem Hakenkreuz zu schmücken.
In Berlin gelten Embleme der Sowjetunion und von Rotchina gelten als cool; Diktaturen, die einen Leichenberg aufgehäuft haben, der den von Hitlerdeutschland überragt.
In Berlin, wo ich öfters bin, ist es nicht anders. Embleme der Sowjetunion und von Rotchina gelten als cool; Diktaturen, die einen Leichenberg aufgehäuft haben, der den von Hitlerdeutschland bei weitem überragt. KGB-Bars und -Bistros gibt es zuhauf, und Mützen und Anzüge im Stil von Mao Zedong sind ein Renner nicht nur in der Bundesrepublik.
Sich zu kleiden wie einer der grössten Massenmörder der Weltgeschichte, der sich laut seinem Leibarzt Li Zhisui jede Nacht Bauernmädchen kommen liess, um sie zu entjungfern und deren Vaginalsekret als Verjüngungsmittel zu konsumieren, löst keinen Alarm politischer Korrektoren aus.
IX. Kleine Fiche
Weshalb haben so viele im Westen so wenig Verständnis dafür, was es bedeutet, unfrei zu sein? Den Verlust von Hab und Gut, von Leib und Leben kann man nachfühlen, die verbreitete Armut weckt Mitleid, doch Empathie für Menschen, die in Unfreiheit leben, ist rar.
Was Freiheit ist, weiss nur, wer im Gefängnis ist, ob im Strafvollzug oder in einer Diktatur; in Ländern ohne eine unabhängige Justiz, ohne freie Wahl und Abwahl der Volksvertreter, ohne Reise-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit, wo man gegen die Regierung demonstrieren darf und dabei von der Polizei geschützt und nicht verprügelt wird.
Der Fichenskandal hat auch gezeigt, dass der Rechtsstaat Schweiz funktioniert. Wird die Schweiz als Gefängnis bezeichnet, wäre alles ein Gefängnis.
Friedrich Dürrenmatt, der grosse Nachkriegsschriftsteller, der die moralischen Dilemmata der Deutschen früher thematisiert hat als diese selber; der Dramatiker und geniale Denker, der in seinen Stücken, Essays und Erzählungen dem Menschen in seinen Widersprüchen den Spiegel vorhält – selbst er hat, als der spätere Staatspräsident der Tschechoslowakei Vaclav Havel zu Besuch war, dem ehemaligen Gefängnisinsassen erklären wollen, weshalb auch die Schweiz ein Gefängnis sei.
Seine Laudatio auf den mit dem Gottlieb-Duttweiler-Preis 1990 für seine Zivilcourage geehrten Dissidenten blendet zwar nicht aus, dass in dessen Land unter sowjetischer Herrschaft Regimegegner in Konzentrationslager gesteckt, gefoltert und hingerichtet wurden. Wir Schweizer, sagte Dürrenmatt, hätten uns jedoch freiwillig in ein Gefängnis geflüchtet.
Er spielte dabei auf den Fichenskandal an, der 1989 platzte und enthüllte, dass der Staat zahlreiche Bürger, Pazifisten, Feministinnen, Umweltschützer, in Jugendbewegungen Engagierte, Exponenten der Linken sowie Mitglieder der kommunistischen Partei der Arbeit bespitzelt und seit 1900 rund 900’000 Dossiers angelegt hat; auch über Ausländer, vor allem jene aus Italien.
Der «Schnüffelstaat Schweiz», der auch die Bürgerlichen empörte, setzte eine Kommission ein zur Untersuchung der Affäre, worauf Betroffene ihre Fichen anfordern und einsehen konnten. In meiner Fiche waren so wichtige Informationen vermerkt, wie dass ich eine Party kurz vor Mitternacht verlassen hätte, auf der Vespa mit einer Sozia, deren Identität nicht habe festgestellt werden können.
In der ausserparlamentarischen Linken, zu der ich gehörte, waren nicht wenige frustriert, wenn über sie keine Fiche angelegt worden war, während andere, deren Fiche besonders dick war, ihren Stolz kaum verbergen konnten.
Kein Ruhmesblatt der Schweizer Geschichte, hat dieser Skandal jedoch auch gezeigt, dass der Rechtsstaat Schweiz funktioniert. Wird die Schweiz als Gefängnis bezeichnet, wäre alles ein Gefängnis; unser Planet Erde, die Galaxie, in der sie ist, das Universum überhaupt. Wenn aber alles ein Gefängnis ist, ist nichts ein Gefängnis, weil der Begriff keinen Sinn ergibt.
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Es gehört zu den Aufgaben von Intellektuellen, ihr Land zu kritisieren, auf Fehler und Schwächen hinzuweisen, damit es sich nicht in Selbstgefälligkeit suhlt. Merkwürdigerweise tun das manche, ob links oder rechts, nur um den Preis der Verharmlosung oder gar Idealisierung der Gegner ihrer Heimat; Staaten, in denen die Menschenrechte nicht gelten. Für Noam Chomsky, den Amerikaner, der keine Gelegenheit auslässt, sein Land zu geisseln, ist der Westen schuld am Ukrainekrieg, habe Putin doch seit dreissig Jahren vergeblich auf die «Sicherheitsbedenken Russlands» hingewiesen.
Ins gleiche Horn stossen Phyllis Bennis, die Kämpferin gegen den amerikanischen Imperialismus, und Naomi Klein, die einflussreiche Aktivistin gegen den Kapitalismus und die Globalisierung. Dass die Ukraine souverän ist wie ihr Land, dass deren Volk zum Westen gehören will wie das ihre, zählen für diese Kritikerinnen nicht.
Seit über hundert Jahren hat kein Staat mit Ausnahme von Hitlerdeutschland Russland angegriffen oder die Absicht dazu gehabt. Umgekehrt jedoch hat Osteuropa über Jahrhunderte die russische Gewalt zu spüren bekommen, hatte sein eigenes Schicksal nicht bestimmen können, war auf der falschen Seite des Eisernen Vorhangs und konnte sich erst befreien, als dieser fiel.
Zwei Jahre Haft wegen «Rowydtum aus religiösem Hass»: Die Pussy-Riot-Mitglieder Marija Aljochina und Nadeschda Tolokonnikowa während des Prozesses von 2012.
Bild: Max Streltsov/Saltimages/Laif
Dass westliche Intellektuelle die Sünden des Westens anprangern, den Kolonialismus, Rassismus und die Ausbeutung der Dritten Welt, ist eine Tugend der Aufklärung. Begnügt man sich damit, gerät jedoch ins Vergessen, dass man nicht nur von Opfern, sondern auch von Tätern umgeben ist; ob das nun islamistische Terroristen, russische Sturmtruppen oder totalitäre Regime sind, die die Bombe in die Hand bekommen könnten.
Nachdem Helmut Kohl als eingefleischter Europäer die Ostler ernst nahm, haben die Regierungen von Gerhard Schröder und Angela Merkel auf Putins Russland gesetzt, unter dem Motto einer «privilegierten Partnerschaft». Sie haben alle Warnungen aus Polen, der Ukraine und anderen Oststaaten in den Wind geschlagen, sich weder von den Kriegen Russlands in Tschetschenien, Georgien und Syrien noch vom Raub der Krim von ihrem Kurs abbringen lassen. Auch nicht, als die Gazprom im Januar 2006 Georgien den Gashahn zudrehte, im kältesten Winter seit zehn Jahren.
Oligarchen, die hofiert, kriminelle Machenschaften, die ignoriert wurden – sie waren der Zement, der das Luftschloss der Russophilie zusammenhielt.
Hätten sie auf die Kritik der USA und der Grünen im eigenen Land gehört, wären die Ostseepipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 nicht gebaut worden; hätten sie die Anbindung der Ukraine an die EU und die Nato nach dem Raub der Krim befördert, wären wir heute wohl nicht in der Misere, in der nun die ganze Welt ist.
Die westliche Wirtschaft hat davon profitiert und dafür gesorgt, dass sich nichts ändert. Oligarchen, die hofiert, kriminelle Machenschaften, die ignoriert, Korruption, die toleriert wurde – sie waren der Zement, der das Luftschloss der Russophilie zusammenhielt.
«Wie andere auch» habe er sich geirrt, sagte nonchalant Frank-Walter Steinmeier, der amtierende Bundespräsident. Ein Freund des russischen Aussenministers Sergei Lawrow, hatte er früh Russland zu seinem Schwerpunkt gemacht, war mit Putin ungezählte Male am selben Tisch gesessen, hatte auf Wandel durch Handel gesetzt und die Moral auf seiner Seite geglaubt – was etwas merkwürdig ist für einen Mann, der die Terroristin Gudrun Ensslin eine «grosse Frau der Weltgeschichte» nannte.
Was die Ukraine spezifisch betrifft, war es ein Amerikaner, der Historiker Timothy Snyder, der die Massenmorde und die Vernichtungspolitik von Nazideutschland und Stalins Russland erforscht und die Landstriche von Polen, Weissrussland, dem Baltikum und der Ukraine ins Bild gerückt hat: «Bloodlands», sein 2010 erschienenes Buch, sollte Pflichtlektüre sein für Intellektuelle jedweder Art; Fachleute, Amtsträger und Politiker, die über den Tellerrand ihres Landes hinaussehen müssen, um kompetent argumentieren und handeln zu können. Es ist nicht zuletzt die Ignoranz der westlichen Elite, die Putin ermöglicht hat, seinen lang gehegten Plan zu verwirklichen.
In seinem 1940 in Grossbritannien erschienenen Buch «Germany. Jekyll and Hyde» hatte Sebastian Haffner das Naziregime, die Figur Hitlers und die Gesellschaft der Deutschen so brillant analysiert, dass der britische Premier Winston Churchill es zur Pflichtlektüre für die Minister seines Kriegskabinetts erklärte.
X. Niederlagen
Selbst renommierte Persönlichkeiten sind nicht gefeit gegen Misstritte den Osten betreffend, wie ich in der Jahrtausendwende erlebte, als ich eine Fellowship am Internationalen Journalisten-Kolleg der Freien Universität Berlin hatte.
Wir waren fünfzehn, die eine Hälfte aus dem Osten, die andere aus dem Westen. Man war frei, an dem eingereichten Projekt zu arbeiten und Studienfächer zu belegen; Pflicht war die Teilnahme an Diskussionen, zu denen prominente Gäste eingeladen wurden. Richard von Weizsäcker kam, dessen Vater als Staatssekretär im Auswärtigen Amt nach dem Krieg wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt und verurteilt worden war.
Zum 40. Jahrestag des Kriegsendes und Zusammenbruchs der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft, hatte Weizsäcker 1985 als Bundespräsident eine Rede gehalten, die in die Geschichte einging. Erstmals wurde der Tag des 8. Mai in Deutschland als Tag der Befreiung und nicht der Niederlage begangen.
Weizsäcker, ein stattlicher Herr mit einnehmender Ausstrahlung, sorgte für eine lebhafte Diskussion, bis die Kolleginnen aus Slowenien, Ungarn und Bulgarien wissen wollten, weshalb Deutschland so reserviert sei ihren osteuropäischen Ländern gegenüber.
Richard von Weizsäcker widersprach, erzählte von seinen Staatsbesuchen im Osten und scherzte, wie er sich immer erst eine Litanei über das schlimme Russland habe anhören müssen. Damit war er unten durch bei den drei Frauen, die von seinen Verdiensten kaum etwas wussten.
XI. Dreimal Revolution
Die Ukraine ist eine «verspätete Nation», ihre Nationalbewegung ein Widerhall der Bewegungen Europas, die Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts die ständischen Gesellschaften und ethnischen Gruppen zu Nationen formten, mit dem Anspruch auf Souveränität.
Im Gefolge des Ersten Weltkrieges und der Revolution in Russland zerfielen die drei Vielvölkerimperien Osteuropas, das Russische, das Habsburgische und das Osmanische Reich. Den Ukrainern gelang es nicht wie anderen, die Chance zu nutzen. Während Tschechen, Polen, Litauer, Esten und Letten Nationalstaaten begründeten, fanden sie sich nach kurzlebigen Versuchen wieder unter der Knute fremder Mächte; der Sowjetunion im Osten, Polens, Rumäniens und der Tschechoslowakei im Westen.
Seit dem Fall der Mauer hat die Ukraine drei Revolutionen durchlaufen. Bei der ersten von 1989 bis 1991 ging es um die nationale Unabhängigkeit, aber nicht um die Demokratie. Bei der zweiten, der «orangen» von 2004, ging es um die demokratische Wahl einer neuen Führung, aber nicht um das korrumpierte System. In der dritten, dem Euromaidan von 2014, ging es aussenpolitisch um die Abkehr von Russland hin zu Europa und innenpolitisch um die Reformierung des Systems von Regierung und Gesellschaft.
Der Gestank geschmolzener Reifen hing in der Luft: Kyjiw während der Proteste des Euromaidan 2014.
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In jenem Euromaidan 2014 wurde die neue Ukraine geboren. Als die Studenten gegen Janukowitschs Weigerung, das Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union zu unterzeichnen, protestierten und brutal zusammengeprügelt wurden, kamen die Veteranen des Afghanistankrieges, um ihre Kinder zu verteidigen.
Schliesslich waren Jung und Alt auf dem Maidan, aus Stadt und Land, Angehörige jeder Ethnie, Religion, Klasse und Kultur. Ethnische Russen standen auf der Bühne, prominente Juden stellten sich ins Rampenlicht, Schwule und Lesben betrieben eine Hotline für Menschen in Not, junge Feministinnen bewachten die Spitäler, um zu verhindern, dass die Verwundeten von Schergen des Regimes entführt wurden.
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Der langjährige, von Erfolg gekrönte Freiheitskampf der Polen war für die Ukrainer der Ansporn, nicht aufzugeben. Doch während ihre Nachbarn mit der Gewerkschaft Solidarnosc ein geeintes Volk waren, war das in der Ukraine bisher nicht der Fall.
Nun, da mit Wolodimir Selenski und seinem Stab das Land eine Führung hat, hinter der die Mehrheit des Volkes steht, könnte sich das ändern. Der jetzige Krieg wird eine wiederum neue Ukraine gebären; erringt sie den Sieg über Russland und gelingt die Annäherung an die EU, darf man hoffen, dass das Land geeinter, demokratischer und weniger von Korruption und Oligarchie geprägt sein wird.
XII. Wo Europa endet
Auf meiner Reise durch die Ukraine während des Euromaidan 2014 hatte ich in Nowi Petriwzi, einem ruhigen Vorort im Norden von Kyjiw, Janukowitschs Residenz besichtigt, das «Sultanat Meschihiria». Heerscharen erkundeten das Grundstück mit dem Wohnhaus, das aussieht wie ein Chalet, das sich am Buckingham Palace verschluckt hat.
Die Besucher waren weniger empört als amüsiert über den Monumentalkitsch eines Parvenüs, für den nicht nur Geschmack eine Frage des Geldes war. Fünfzehn Euro pro Tag und Teilnehmer habe sich das Regime Kundgebungen zu seinen Gunsten kosten lassen, hat Kateryna mir gesagt, als wir über Putins Schützling sprachen.
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Wo Europa ende