Franz Hohler - Die Steinflut
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Katharina verstand auch nicht, weshalb das Kind ausgerechnet jetzt kam. Genau genommen wusste sie überhaupt nicht, woran es lag, dass eine Frau ein Kind bekam. Es gehörte ein Mann dazu, soviel stand fest, das war ja bei den Tieren auch so, und sie dachte daran, wie sich Rhyners Stier diesen Sommer brüllend auf Vaters Kuh gestürtzt hatte, als man ihn zu ihr liess, aber dass sich Vater auf diese Weise an Mutter heranmachte, konnte ja im Ernst nicht sein, und da müsste Katharina auch etwas gehört haben, von einem solchen Gebrüll, denn sie schlief mit Kaspar, Regula und Jakob neben dem Zimmer der Eltern. Auf einmal entdeckte sie eine schmerzliche Lücke in dem, was sie über das Leben wusste, und sie nahm sich vor, Anna zu fragen, wenn sie wieder zu Hause wäre. Anna war schon eine Frau, und die wusste sicher Bescheid über die Männer, denn da gab es einen, der kehrte nur wegen ihr ein, ein Schieferarbeiter, er wohnte auch in der „Bleiggen“, im hinteren Hof, Hans Kaspar hiess er, und kürzlich, als Katharina beim Eindunkeln zur alten Elsbeth geschickt wurde, um Eier zu holen, hatte sie gesehen, wie sich die beiden unter dem Haus küssten. Und wenn nun, dachte Katharina, wenn nun so ein Kuss dazu führt, dass es ein Kind gibt? Dann bekäme vielleicht Anna auch eins. Aber das ging ja gar nicht, denn sie war noch ledig, und damit man ein Kind bekam, musste man verheiratet sein. Sie musste ihre Schwester unbedingt danach fragen. Oder sollte sie beim Grosi Auskunft holen? Nein, lieber nicht. Die Grossmutter war zwar lieb zu ihr und gab ihr manchmal ein Stück Zucker, aber auf die Frage, warum Grossvater gestorben sei, hatte sie gesagt, an einem Kropf, und auf Katharinas nächste Frage, wie man denn an einem kropf sterbe, hatte sie zur antwort gegeben, dafür sei sie noch zu klein. Dieser Satz war Katharina zuwider, und sie wollte ihn nicht noch einmal hören.
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